Wieso sich immer mehr Tiere auf Twitter zu Wort melden

Auf Twitter ist zu beobachten, dass sich in gesamtgesellschaftlichen Debatten inzwischen auch eine Gruppe zu Wort meldet, deren Stimme häufig untergeht: Tiere. Profilfotos von Katzen, Border-Collies, Labradoren, Wellensittichen, Delphinen und Meerschweinchen dokumentieren das hinlänglich. Wie die Tiere sich unsere Sprache angeeignet haben, ist ein noch ungelöstes Rätsel. Jedenfalls meiden viele einen Anlauf in Diskurskultur und legen sich gleich einen Twitter-Account zu. Eine wütende Schleiereule namens „Klartext“ bevölkert den Kreis der sprechenden Tiere, hängt aber noch an der Sprachbarriere fest: Viele ihrer Tweets beginnen mit „Bla bla bla“. Sie erinnert daran, dass „unsere Großeltern“ wirklich nicht „eine einzige Sekunde gezögert“ hätten, „um ihr Land mit Blut und Schweiß wieder aufzubauen – ohne sonstigen ,Sozialleistungsschnickschnack‘ oder andere horrende staatlichen Zuwendungen dafür zu bekommen!!“. An die Eulen, die „keine Sekunde gezögert haben“, hat in der Tat lange niemand gedacht. Besorgniserregend ist auch, wenn schon Tiere – hier ein schwarzes Schaf namens „Georg“ – darauf hinweisen, dass die Menschheit „immer dümmer“ wird, und als Quelle einen „wissenschaftlichen Beweis“ anführen, um dann auf den „Focus“ zu verlinken. Rotkehlchen „Carli“ will deshalb eine „sichere Heimat bewahren“ und „trotz allem den Humor nicht verlieren ... und AfD wählen“. Nur wer soll die noch wählen? Laut der Diagnose eines anderen Schafes („SpoopySheep“) gibt es ja von „Deutschen kaum eine Spur, nirgendwo!!!“. Und im Tierreich? Bis zum Wahlrecht für Tiere ist es noch ein langer Weg, obwohl tierische Fußballorakel weltweit bewiesen haben, dass Tiere wählen können. Kann die deutsche Taube helfen, als Wahlvieh sozusagen? Nein, der deutschen Taube, dem Repräsentanten der tierischen Mittelschicht schlechthin, geht es einfach zu gut. Ein Rottweiler mit schwarzer Kapuze twittert: „In unserem Land sollte man sich an die Sitten halten“ – unklar bleibt, ob er die Wellen- oder die Nymphensitten meint. Völlig „inakzeptabel“ sei es, „wie respektlos sich verhalten wird, hier im Beispiel; Kopftuch tragen“. Die Minderheit der Haubentaucher hält sich auf Twitter bis dato bedeckt. Insgesamt aber (ver-)führt das Phänomen „Tiere auf Twitter“ zur verzerrten Wahrnehmung. Die Tiere, die sich auf Twitter äußern, bilden ja nur einen sehr, sehr geringen Teil der 48.000 Tierarten ab, die in Deutschland heimisch sind. Zudem: Biologen sprechen beim Anlegen eines Twitteraccounts zunehmend von einer „Übersprungbewegung“, also einem Verhaltensmuster, das als unerwartet empfunden wird, da es innerhalb einer Verhaltensabfolge auftritt, in der es keinem unmittelbaren Zweck dient. Der Ethologe Nikolaas Tinbergen schrieb in seinem Aufsatz „Derived activities: their causation, biological significance, origin and emanzipation during evolution“ schon im Jahr 1952: „Diese Bewegungen scheinen irrelevant in dem Sinne zu sein, dass sie unabhängig vom Kontext der unmittelbar vorhergehenden oder folgenden Verhaltensweisen auftreten.“ Auslöser ist der Konflikt zwischen zwei Instinkten, weshalb die Fortsetzung des vorherigen Verhaltens zeitweise nicht möglich ist und stattdessen ein Verhalten an den Tag gelegt wird, das laut Instinkttheorie aus einem völlig anderen – dritten – Funktionskreis des Verhaltensrepertoires stammt. Austernfischer führen im Angesicht ihres Spiegelbildes Schlafbewegungen durch, da ihr Angriffs- und ihr Fluchtinstinkt sich gegenseitig lahmlegen. Das beschreibt die Konferenz der Tiere bei Twitter ganz gut.